Angekommen wandert der Pilger weiter. Seine schwarze Robe mahnt ihn, dass er weder Weg noch Ziel kennt. Er folgt dem Gehen. Also geht er.
Keine Lockung eines Bleibens kann die Kostbarkeit des Gehens aufwiegen. Die Bewegung selbst ist es, durch die sich das Leben vollzieht – ein Bleiben wäre Stehen, wäre Stagnieren. Station ja, Station ist Luftanhalten und Ausatmen vor dem Einatmen.
Meine Ahnen sind so gepilgert, nichts im Gepäck – keine Vorräte, keine Last, keine Geliebten, keine Pins auf Landkarten.
Wenn du nur gehst, brauchst du keine Orientierung vor- oder rückwärts, weder über morgen noch über gestern brauchst du zu wissen, es reicht, dass du siehst, wohin du den nächsten Schritt setzt. Ab und an den Blick hebst, um nicht gegen einen Baum, einen Felsen, einen Gedanken zu laufen.
Strategien, Ausrüstung, ja selbst Minimalversorgung fallen raus.
Du läufst um alles herum, das du nicht beseitigen kannst, und es ist dir gleich, wenn du drei oder mehr Tagesmärsche zurücklaufen musst, weil sich vor dir ein unpassierbarer Fluss auftut.  Du könntest auch schwimmen, sicher, aber es kommt nicht darauf an. Du kennest kein Ziel. Das Leben heisst dich gehen. Richtungen spielen dabei keine Rolle, treffen keine Aussagen, sind also keine Wegweiser und keine Beruhigung.
Es gibt keine Beunruhigung beim Gehen ohne Gepäck. Du und der Schritt, deine einzige Gesellschaft.
Irgendwann passiert es dann, dass du vor dem nächsten Schritt tot umfällst, dass kein nächster Schritt kommt, dann hört das Gehen schlussendlich auf und Bleiben wird notwendig, nein, überhaupt möglich.
Es kann sein, so stelle ich es mir manchmal vor, dass in diesem Bleiben alle vorausgehenden Schritte nachhallen, wie Murmeln in einem Korb liegen sie gesammelt – dann schimmert und raschelt selbst im Bleiben das Echo des Gehens.

WANDERN

Im Haus meiner Grossmutter gab es zwei alte gepolsterte Sessel mit Armlehnen aus Holz, auf denen die Grosseltern allabendlich vor dem Fernseher einnickten. Der Stoff war verblasst, dunkelblaue, orange und braune Muster auf einem angegrauten Hintergrund, der einst mal weiss oder cremefarben war.
Meine Grossmutter strickte manchmal beim Fernsehen oder häkelte einen ihrer überdimensionalen Bettüberwürfe für die Aussteuer ihrer beiden Enkelinnen. (Warum sie so viele Überwürfe für nur zwei Hochzeiten brauchte, wunderte mich seltsamerweise nicht im Geringsten. Stattdessen beschäftigte mich die Frage, welchen ich wohl bekommen würde. Am Ende ging ich leer aus, weil meine Grossmutter längst tot war, als ich heiratete, und beim Einbruchsdiebstahl einige Jahre zuvor nicht nur der Fernseher, sondern auch alle Häkelarbeiten abhanden kamen. Sie brachten in den 90er Jahren auf regionalen Märkten ganz schön was ein, vor allem, wenn man sie den Touristen andrehen konnte.) Mit krummen Fingern machte Oma ,blind’ flinke, für mich unverständliche, Bewegungen und das Stück unter den Nadeln wuchs in Zeitraffer zu einem wachsenden, bunten Etwas – da war Zauberei im Spiel.

Ihre Stimme, wenn sie mich dann ins Bett schickte, war ruhig und sanft, behielt aber noch den ihr sonst eigenen sonoren, grobkörnigen Kern, gegen den sich meine kindliche Müdigkeit nicht mal versuchsweise aufzulehnen vermochte.

Ich sprang also ohne jede Weigerung im Pyjama durch die kalte Wohnung, schnappte mir im eisigen Badezimmer meine Zahnbürste und putzte mir die Zähne in der Küche, wo nach dem Abendessen der Ofen noch glühte. Dann lief ich, die Füsse längst zu Eisblöcken gefroren, unter die kalte Bettdecke.

Dort kam sie dann hin, meine Grossmutter – ich musste nie warten oder nach ihr rufen – und packte mich von allen Seiten, an den Schultern und zuletzt an den Füssen mit sicheren und robusten Bewegungen so fest in die Decke ein, dass kein kalter Luftzug, und auch keine Bewegung mehr, Platz hatten.

Wie ein eingewickeltes Baby, dachte ich. Dann klopfte sie beherzt ein paar mal auf meinen Beinen und ging zurück zu ihrem Handwerk und der Tagesschau.

Die Tür liess sie nie auf. Ich weiss nicht, warum man mir als Kind diesen letzten Strahl Licht, diesen dünnen Faden Sicherheit und letzten Rest Verbindung zur Erwachsenenwelt nicht gewährte, so wie es andere Eltern für ihre Kinder taten. Aber eine solche Geborgenheit und tiefe Ruhe wie ich sie als Päckchen im grosselterlichen Schlafzimmer entschlummernd, den Geräuschen der Tagesschau nebenan lauschend, empfand, habe ich nach deren Verlust (irgendwann während der normalen Entzauberung beim Heranwachsen) nie mehr gefunden.

Vielleicht um die Vergeblichkeit und Anmassung einer solchen Suche wissend auch nie mehr gesucht.

KINDHEIT

Der Duft von feuchtem Boden, auf dem das Obst schon gärt, das gefallene. Und nach Sonne,
die sich an Milde versucht.
Es gab keine Hitze diesen Sommer. Man schaut in die Ferne und rätselt, woher die Stimmen kommen.
Die große Eiche schiebt sich vor die folgende Leere. Vom See herauf kommt das dumpfe Stottern eines Rasenmähers, die Vögel selig-müde wie das abebbende Flüstern von Liebenden, die umschlungen
ihrem Atem zur Ruhe bringen.
Nichts von dem aufgeregten, lauten Zwitschern des Frühlings.

In diese Stille hinein dampft der Tee und der Tag tänzelt sich unmerklich herbei wie die
leuchtende Durchlässigkeit des Nebels, bevor er – magisch! – den Vorhang für die Sonne hebt.

ENTHÜLLUNG

Im Wort ist die Empfindung bereits enthalten.
Das dunkle portugiesische A und das weiche D. Das O, das sich in eine Melancholie verlängert – schmerzlich und tröstlich zugleich wie Pessoas Erkenntnis, dass Schmerz und Scheitern nicht von Bedeutung sind, dass es genügt, dass das Leben passiert. Schmerz und Trost erscheinen gleichzeitig: es trifft dich unmittelbar, unvorbereitet, plötzliche Tränen in alle Richtungen, unkontrolliert. Nicht wie übliches Weinen, das recht geordnete Bahnen nimmt (weil es meistens auch herkömmliches Geschehen ist; Fado dagegen ist eine überwältigende Naturgewalt), sondern ohne Schluchzen, ohne Zittern. Ein Fluss wie Reinigung, klassische Katharsis. Als würde dich jemand halten und wiegen, tief traurig, aber beheimatet, umverloren. Kein intellektueller Kunstgenuss, doch kaum zu übertreffen an schlichtem, unprätentiösem Raffinement.

Ich bin der Subtilität und tiefen Wucht dieser Musik verfallen. Die erotische Natürlichkeit der Musiker, ihre entspannte Wärme und Leichtigkeit gepaart mit der Intimität der kleinen dunklen Räume, den von Kerzen beleuchteten Augen – Augen, die lauschen und nach Innen versinken. Viele private Geschichten und eine intime Vereinigung im Schmerz.

Port-Wein ist ein guter Freund an Abenden, an denen Worte überflüssig sind.
Einander gehören, ohne einander zu halten.

FADO

Das müde Rauschen der Heizung und schüchternes Zittern in den wenigen Goldblättern, die noch dem Herbst trotzen, obwohl er doch längst den Winter willkommen heißt.

Etwas Seufzendes liegt in der Luft der Schornsteine, nein, Ausatmendes. Die Sonne leuchtet kalt und ist bloß Erinnerung an Trost. Der wahre Trost dieser Jahreszeit, die wahre Ruhe, liegt in der Leere der Bäume ohne Blätter, in leergefegten, nebligen Straßenzügen im Licht der Laternen,
im Nachlassen spähender Augen, in der Müdigkeit von Herzen, die nichts mehr ersehnen, nichts erkämpfen, und so nichts mehr erleiden.

Die Stille, die sich über all die Geschäftigkeit legt, wenn nachts die Stadt schlummert – die Herrscherin über alles, diejenige, die alles birgt, alles hält, alles preisgibt und am Ende ins Nichts fließt ohne Ankündigung oder Übergang.

WEIHNACHT

Morgenstunden nach langem Schweigen vertiefen die Leere zwischen den Dingen und ihren Rändern. Ein schmaler Grat, den ich meistens überspringe, übersehe oder - am schlimmsten! - übertünche.

Da ist ein Ding, sei es nun stofflich, geistig oder seelisch, sei es ein Sehen oder Hören,
Sehnen oder Denken; dieses Ding hat einen Rand. Und dazwischen ist eine Leere,
Etwas ohne Namen, das den Rhythmus zwischen den Dingen zeichnet: Achtel-, Viertel- oder Ganzton - losgelöst von der Größe des Dings selbst - und eine Möglichkeit für Pause.

So wird es still um alles, alle Dinge sind von dieser Stille umgeben. Sie schützt und hält sie.

STILLE (SITZEN II)

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Haikus